Arts for Health – Klavierspielen hält gesund
Beitrag vom9. August 2024
Das „Forschungsinstitut für Musikmedizin mit Schwerpunkt Arts for Health“ wurde im Jahr 2022 mit Unterstützung durch die Carl Bechstein Stiftung und die Österreichische Gesellschaft vom Goldenen Kreuze an der JAM Music Lab Private University in Wien begründet.
Professor Oliver Peter Graber forscht in dem Institut u.a. zum Thema „Piano und Brainhealth“. Er fragt sich, wie das Klavierspiel optimiert werden kann, um geistige Gesundheit zu fördern und zu erhalten, um damit etwa den Ausbruch von Demenzerkrankungen nach hinten zu verschieben bzw. selbige zu bekämpfen. Der folgende Aufsatz von Professor Graber erklärt, warum Klavierspielen so wichtig für die körperliche und vor allem geistige Gesundheit sein kann.
Oliver Peter Graber
88 – diese Zahl steht an dieser Stelle in zweifacher Bedeutung sowohl für den „Standardumfang“ von akustischen Klaviaturen (nämlich 88 Tasten vom Subkontra A bis zum fünfgestrichenen C), wie für ein Lebensalter, in dem man dank Klavierspiel sein Leben vital und freudvoll gestalten kann.
Doch was macht den Tastenzauber zum Jungbrunnen?
Betrachten wir zunächst die Hand. Was uns vor Jahrmillionen zum „Menschen“ machte ist keinesfalls nur das Gehirn, es ist vor allem auch das so genannte Daumensattelgelenk (in der anatomischen Fachsprache Articulatio carpometacarpalis pollicis genannt), welches die so genannte „Opposition des Daumens“ und damit das Greifen und Halten von Gegenständen ermöglicht. Würden andere hoch intelligente Lebewesen, wie etwa Delphine, über eine solches Greifwerkzeug verfügen – wer weiß, ob nicht auch sie längst Klaviere hätten!
Das „Be-Greifen“ der Klaviatur ist ein entscheidender Akt des Klavierspiels, es erfordert und fördert räumliche Vorstellung und Orientierung, Koordination wie Unabhängigkeit von Bewegungen, motorische Schnelligkeit und Effizienz. Allein diese kurze Liste beinhaltet einen Mount Everest an Aufgaben für Hand und Gehirn, sollen all diese Aufgaben geplant, gesteuert, kontrolliert ausgeführt, erinnert und sicher wiederholt werden.
Dazu kommt, dass Klavierspiel wahrhaft POLYPHONES (vielstimmiges) und dabei dynamisch akzentuiertes Spiel ist – in anderen Worten: dass sich viele musikalische Punkte und Linien gleichzeitig ereignen, sich ineinander verschlingend überlagern. Man „drückt“ nicht acht Tasten einfach hinunter, wenn man einen vollen Akkord mit beiden Händen greift, nein – man gibt jedem dieser acht Töne ein wenig anderes Gewicht und erst daraus entsteht der konzertpianistische Wohlklang. Jede einzelne Stimme, Linie, Schicht im Klaviersatz verlangt nach ihrer eigenen klanglichen Identität, ihrer ureigenen Klangfarbe und aufmerksamen Gestaltung. Hier ein kleines crescendo (lauter werden), da ein staccato (kurz abziehen), dort ein sanftes ritardando (langsamer werden) – und dies alles in vielen Schichten übereinander simultan! Vollends POLYPHON wird das Spiel dann in real polyphonen, nämlich kontrapunktischen Klangkathedralen von Bach bis Busoni, wenn vier- bis noch mehrstimmigere Fugen in der Massierung der Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen und dabei in ihrer Bedeutung gleichberechtigten musikalischen Linien Hände wie Gehirne an absolute Leistungsgrenzen bringen.
Das Klavier ist das „Piano – Forte“ schlechthin (diese seine Besonderheit zeichnete es seit Bartolomeo Cristofori auch hinsichtlich seiner Namensgebung charakteristisch aus), und diese Möglichkeit der nuancierten Abschattierung der Dynamik jedes einzelnen Tones (eben auch innerhalb eines Akkordes) stellt es hinsichtlich den feinmotorischen Anforderungen gegenüber anderen Tasteninstrumenten heraus.
Dabei will all dies von der Hand nicht nur in Gang gesetzt, sondern auch „erfühlt“ und kontrolliert sein. Die Tastatur eines akustischen Klaviers ist ein Mikrokosmos an Vibrationen, welcher die Fingerkuppen geradezu vitalisiert und Schauer an sensorischen Reizen in Richtung Gehirn schickt. Vibrotaktile Wahrnehmung nennt sich dieses Phänomen, welches das akustische Klavier einem elektronischen Instrument so überlegen hinsichtlich der intimen Verbundenheit zwischen Hand, Körper, Klaviatur und Klang macht, uns das Material des Klaviers, seine klangliche Materie und Energie lebendig erleben lässt und damit Wahrnehmungsqualität fördert.
Das dynamisch fein nuancierte Geschehen fördert auch die Qualität des Hörens. So kommt es, dass durch Klavierspiel nicht nur die Hände vital und beweglich, sensorisch reaktiv und motorisch funktional gehalten werden, sondern auch der Gehörsinn entsprechend feine wie fordernde Trainingsreize erhält.
Dass gut trainierte und fein bewegliche Hände bis ins hohe Alter das Alltagsleben deutlich leichter machen als unbenützbar steif-schmerzende ist unmittelbar ersichtlich, der Wert eines gut ausgebildeten Hörsinns geht jedoch noch weiter. Hier kommt nämlich auch die enge Verbindung von Musik und Sprache ins Spiel. Schlechte Hörfähigkeit und mangelnde Sprachverständlichkeit sind nicht nur zunehmend ertaubende Korrepetitoren von Demenzerkrankungen, diese unerbittlichen Dirigenten des Schicksals drängen vielmehr mit ihrem Einsatz auch in den sozialen Rückzug und in die Isolation – womit oft ein Teufelskreis für Betroffene beginnt.
Dabei ist es just die soziale Komponente des musikalischen Miteinander, die beglückende Momente schenkt und einer der zentralen Hauptfaktoren im „Wirkspektrum“ von Musik ist. Gleich ob bei Kammermusik, Liedbegleitung oder Solokonzert – die Aufgaben und Synchronisationsleistungen potenzieren sich, wenn man im Verbund musiziert, aufeinander hören, rücksichtsvoll agieren, klangliche Verläufe des Gegenüber ab- und einschätzen und berücksichtigen muss.
Spielt man dabei vom Blatt, stimmen auch noch die Augen in die Sinfonie der Sinne mit ein – Notentext muss gelesen, vorausgelesen, verstehend erfasst, gemerkt, integriert, umgesetzt, zu- und eingeordnet, exekutiert werden – auch das vielschichtig und gleichzeitig – und spätestens jetzt haben sich bis auf den Geruchssinn so gut wie alle Funktionen und Zentren zugeschaltet, über die das Gehirn überhaupt verfügt – im Falle des Klavierspiels darf man dem Gehirn somit eine nahezu maximale Netzwerkaktivierung attestieren, eine weitere wichtige Zutat im gesuchten Lebenselexier.
Damit sind wir endgültig in der „Schaltzentrale der Pianistik“ angelangt: Dem zentralen Nervensystem, bei dem im Falle des Klavierspiels nicht nur das Groß- sondern auch das Kleinhirn zu bedeutenden Akteuren und Interpreten werden.
Musik ohne Gestalterkennung und Erinnerung ist nicht möglich. Wie wollte man den einfachen Refrain eines Kinderliedes summen, wenn man die Phrase nicht identifizieren und ihre Wiederholung erkennen könnte, wie dem Satz einer ausgedehnten Sinfonie folgen, deren musikalischer Intellekt daraufhin ausgerichtet ist, den dialektischen Form-Prozess einer musikalischen Entität vorzustellen, wie musikalische Variationen verfolgen?
Ultrakurzzeitgedächtnis, Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis, Gestalterkennung/ Mustererkennung, Konzentration, Kombinatorik, Logik, Handlungskontrolle, etc. etc. – all diese fundamentalen Fähigkeiten sind Voraussetzungen von Musik und des Klavierspiels. Sie im Zuge des Klavierspiels zu erwerben und trainieren, bedeutet zugleich sie transferfähig zu machen und in diesem Begriff verbirgt sich ein Großteil der Musikwirkung.
Jerry Miculek, geboren 1954, ist unangefochtener mehrfacher Weltrekordhalter im Schauschießen. Er schießt sechs Schüsse aus einem Revolver, lädt diesen nach und feuert ein zweites Mal sechs Schüsse ab – all dies in 2,99 Sekunden. Kein Mensch schoss jemals schneller, selbst die belgische Zeichentrickfigur Lucky Luke nicht, die schneller ballert als ihr Schatten. Machen wir an dieser Stelle ein Gedankenexperiment. Nehmen wir an Herr Miculek, mittlerweile 70, führe nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause. Auf der zweispurigen und kurvig verlaufenden Autobahn setzt er zu einem Überholmanöver an und schert mit 120 km/h auf die linke Fahrspur aus, um einen Sattelschlepper zu überholen. Kaum links tauchen aus dem Nichts aus dem Scheitelpunkt der langgezogenen Kurve vor ihm zwei Scheinwerfer auf – ein Geisterfahrer! Seine Augen erfassen instinktiv die Gegebenheiten, er bremst und lenkt gleichzeitig mit affenartiger Geschwindigkeit mit Gewalt in die einzig mögliche Lücke zurück nach rechts, da donnert der Geisterfahrer schon an seinem Fahrersitz vorbei und rammt noch schräg das Heck seines Fahrzeugs, ehe beide in die Leitplanken krachen. Beide Autos haben danach Schrottwert, aber die Insassen überleben schwer verletzt. Das Ganze hat nicht einmal 2,99 Sekunden gedauert. Herr Miculek hätte in diesem Fall überlebt und Leben gerettet, weil ihn sein lebenslanges Schießtraining so schnell gemacht hat, dass er in Zeiträumen, die weit jüngere Menschen alleine für Schrecksekunde plus Reaktionszeit benötigen würden (von visuellen und motorischen Koordinationsfähigkeiten, die für das Gelingen eines solchen Manövers notwendig sind, einmal ganz abgesehen), hoch koordinierte, multiple komplexe Aktionen zwischen Sehsinn (= Zielerfassung), räumlicher Situationsanalyse (= Zielen) und muskulärer Reaktion (= Feuern) setzen kann. So konnte er das ungewollte „Duell auf der Autobahn“ zu seinen Gunsten wenden. Dieses Gedankenexperiment zeigt den Wert von Transfer – die Übertragung von in Spezialbereichen erworbenen Fähigkeiten auf andere Gebiete des Alltags.
Durch Klavierspiel wird man „fit wie Miculek“, trainiert Auffassungsgabe, Schnelligkeit, Koordination, Synchronisation, Konzentration, Merkfähigkeit, Gestalt/Mustererkennung, Multitasking, Musik- und Sprachverständlichkeit, soziales Verhalten (sofern man gemeinsam musiziert), Kombinatorik, usw. usw. – kurzum grundlegende Aspekte, die vieles im Alltag leichter machen. Klavierspiel trainiert Hand und Gehirn, Körper und Geist.
Das aber nur dann, wenn man sich auch wirklich selbst ans Instrument setzt. Zuhören und Konzerte besuchen ist nett, aber niemand bringt acht Schuss unter einer Sekunde ins Schwarze, nur weil er bei Zirkusveranstaltungen Herrn Miculek applaudiert. Nur wenn Trainingsreize möglichst regelmäßig, ausdauernd und entsprechend umfangreich erfolgen, setzt das Gehirn einen Prozess in Gang, den man als „Brain-Building“ bezeichnen könnte: Bestimmte Regionen im Gehirn, die durch diese Trainingsreize angesprochen werden, nehmen dann z.B. an Größe zu – ebenso wie der Bizeps-Umfang durch Hantelstemmen oder die Fingermuskulatur durch regelmäßiges Trillern und Skalenspiel auf gewichteten Holzklaviaturen mit entsprechendem Tastentiefgang. Der Effekt ist in der Kindheit am stärksten, kann aber ein Leben lang getriggert werden – und so helfen 88 Tasten auch mit 88 Jahren dem Gehirn noch auf die Sprünge.
Diese so genannte „Neuronale Plastizität“ tritt auch bei anderen Trainingsreizen auf – etwa beim (Schieß-)Sport, wie oben zu zeigen war, oder Tanz – der auch soziale Kompetenz fördert. Auch kann man viele weitere der hier benannten Fähigkeiten durch Schachspiel oder Memory verbessern. Warum sollte Klavierspiel also so besonders effektiv sein?
Weil Musik noch weitere Dimensionen umfasst und beispielsweise Körperrhythmen synchronisiert oder das emotionale Erleben und die Fantasie beflügelt. Kreativität, Motivation, „Flow-Zustände“ (etwa im Zuge von Improvisationen) und die Katharsis der großen musikalischen Geste – all dies im Verbund mit allem Vorgenannten und vielem mehr bietet nur die Musik, das „schattierte komplette Orchester unter den Fingerkuppen“ nur ein Konzertflügel.
Am Ende – wobei dieser Artikel nur eine kleine Auswahl an Gedanken zum Jungbrunnen Klavierspiel vorzustellen vermag – ist es die Fülle der im Klavierspiel vereinten Komponenten, welche die unvergleichliche Wirkung hervorbringt: Pianistik darf in diesem Sinne als eine ultimative Cuvée physischer und psychischer Prozesse gelten, bis hin zur Charakterbildung.
Die Begegnung – nein vielmehr die innige Beziehung – mit dem Klavier, dem man alles anvertrauen, mit dem man alles ausdrücken kann, das man liebkosen darf und das mit und für einen weint oder lacht, kann mit Worten einfach nicht beschrieben werden, man muss sie erleben – selbst er-spielen. Was wäre noch mehr zu sagen: Es lohnt – und ist zudem wissenschaftlich erwiesen!
Fotos © Barbara Mair
Der Autor: Oliver Peter Graber ist international als Komponist, Konzertpianist und Musiktheoretiker tätig. Sein Tätigkeitsschwerpunkt liegt interdisziplinär am Schnittpunkt von Musik, Ballett und Naturwissenschaft. „Arts for Health“ – das unmittelbare Zusammenwirken von Künstler:innen mit Betroffenen zum Zwecke der Prävention und Salutogenese (also der Gesundheitsförderung) – liegt ihm dabei besonders am Herzen: Aktuell ist er künstlerischer Leiter des „Forschungsinstituts für Musikmedizin mit Schwerpunkt Arts for Health“ an der Jam Music Lab Private University in Wien, das von der Carl Bechstein Stiftung und der Österreichischen Gesellschaft vom Goldenen Kreuze unterstützt wird.
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